Das letzte Foto von Frau U.`s Onkel. Mit 17 Jahren wurde er von Stalins Leuten abgeholt. Die Familie erfuhr nie, was mit ihm geschah.

„Es ist passiert“

Interview mit einem Ehepaar, das in Russland aufgewachsen ist

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine beschäftige ich mich mit dem Thema Ukraine­/Russ­land.

Was mich dabei immer wieder aufs Neue erschüttert sind Berichte, Videos und Dokumentationen über die unvor­stellbare Grausamkeit der russischen Armee und die überwiegende Gleich­gültigkeit ihrer Bevölkerung, die ich mir nur aus der Geschichte dieses Lan­des erklären kann. Umso mehr ha­be ich mich gefreut, daß eine Familie, die vor Jahrzehnten aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland einge­wandert ist, bei den Freunden der Ukraine 24 mitmacht und mir ein Interview gegeben hat. Da sie mit ihrem Standpunkt in der russischen Gemeinschaft recht alleine stehen und Angst vor Anfeindungen haben haben wir die Namen geändert.

Grüne Post: Könnt Ihr Euch noch an den 24.2.2022 erinnern und was war Euer erstes Gefühl, als ihr vom russi­schen Einmarsch in die Ukraine erfah­ren habt?

Herr U: Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern. Ich konnte es nicht glau­ben, was passiert ist. Ich weiß, dass Millionen Menschen in Russland und der Ukraine miteinander verwandt und befreundet sind. Ich hätte mir nie­mals vorstellen können, dass die russi­sche Armee die Ukraine angreift. In dem Moment dachte ich, dass dieser Schaden, der damit angerichtet wird, nicht so schnell wieder gutzumachen ist. Das wird nicht so schnell verges­sen.

Frau U: Ich habe bereits die Zeit vor­her im deutschen Fernsehen mitver­folgt, wie russische Truppen an die Grenze verlegt wurden. Gleich nach dem Aufstehen am 24.2.2022 habe ich den Fernseher angeschaltet, ging zu meinem Mann und sagte: „Es ist passiert“. Mir fiel sofort ein, dass zur gleichen Tageszeit auch Hitler seinen Krieg begonnen hatte.

Grüne Post: Ihr seid als Russland­deut­sche in der damaligen Sowjet­uni­on aufgewachsen. Eure Großeltern und Eltern hat­ten es dort nicht leicht. Was wißt ihr über ihre Lebensgeschichten?

Herr U.: Wir haben zuhause oft darü­ber gesprochen. Im 18. Jahrhun­dert warb die damalige russische Zarin Katharina die Große in Deutschland um neue Bür­ger. Damals wanderten unsere Familien, wie viele andere auch, ins Wolgagebiet aus. Ihnen wur­de Land zur Verfügung gestellt, das sie bearbeiteten. Bis zum 1. Weltkrieg konnten sie dort gut leben.

Frau U.: Nach der russischen Revo­lu­tion 1917 richteten die Sowjets dann viel Unheil an. Menschen wurden ent­eignet, wer die Bolschwiken nicht un­ter­stützt hat kam ganz schnell in ein Arbeitslager. Später wurden massive Säuberungen vorgenommen, bei de­nen aus ganz Russland Millionen Men­schen weggesperrt wurden. Mein Groß­vater kam aus einem solchen Arbeitslager nicht mehr zurück. Meine Oma hat erzählt, dass Bewaffnete in der Nacht gekommen sind und ihn einfach mitgenommen haben. Es gab weder Gerichtsverfahren noch haben wir je wieder etwas von ihm gehört.

Grüne Post: Sprach man in der Familie über das, was während Stalins Herr­schaft geschah?

Herr U.: Über Stalin und das, was geschah, wurde sehr viel gesprochen, aber nur im allerengsten Familien- und Freundeskreis. Man hatte Angst.

Grüne Post: Was änderte sich mit dem 2. Weltkrieg für die Russland­deut­schen?

Herr U.: Sehr viel. Zu Beginn des Krie­ges kamen alle Männer in Arbeitslager für das Militär. Sie mußten im Berg­bau, im Wald und überall sonst arbei­ten, wo Arbeitskraft benötigt wurden.

Frau U.: Es gab dann keinen Kontakt mehr zu ihnen. Im August 1941 sind die Kommunisten zu allen gekommen und haben zu allen Familien gesagt, sie müssen mor­gen früh ihre Heimat verlassen und dürfen nur mitnehmen, was sie tragen können. Das war ein riesiger Schock für die Frauen und Kinder – die Män­ner waren ja bereits in die Arbeitslager gebracht worden. Rinder, Schweine und alle anderen Tiere mußten frei­ge­lassen werden. Sie durften nichts mit­neh­men.

Herr U.: Sie wußten weder, wohin, noch für wie lange oder ob sie jemals nach Hause kommen werden. Doch die, die in die Züge verladen wurden, hatten zumindest die Chance, zu über­leben. Die zurückbleiben mußten wur­den getötet.

Meine Großmutter, die damals 34 Jahre alt war, wurde mit ihren 5 Kin­dern nach Omsk in Sibirien gebracht. Sie haben dort mit anderen Russland­deutschen überwintert. Sie wurden wie Kriegsge­fangene behandelt, es war furchtbar kalt und sie hatten keinen Schutz. In diesem Winter ist einer ihrer Söhne gestorben. Es ging ihnen wie vielen, vielen anderen.

Im Frühling herrschte noch viel Chaos im Land und sie konnten nach Kasach­stan fliehen. Dort lebten bereits Russ­landdeutsche, die schon vor dem 2.Weltkrieg dorthin geflohen waren. Die Kasachen waren ebenfalls ein un­terdrücktes Volk und zu den Deut­schen loyaler.

Frau U.: Das ist ein sehr friedliches Volk.

Herr U.: Meine Großmutter kam mit den überlebenden vier Kindern am Ostersonntag 1942 in das Dorf. Sie waren völlig ausgehungert und ent­kräftet. Die schon dort lebenden Russ­landdeutschen gaben ihnen vorsichtig Nahrung und Unterkunft und päppel­ten sie wieder auf.

Grüne Post: Im März 1953 starb Stalin. Was änderte sich danach?

Herr U.: Unsere Familien warteten nach Kriegsende 1945 wie alle ande­ren jeden Tag darauf, dass sie wieder nach Hause fahren dürfen. Deshalb baute auch niemand mehr Nahrungs­mittel an. Doch es wurde ihnen nicht erlaubt, wodurch es wieder zu Hunger kam. Nach Stalins Tod wurde es lang­sam besser. Aber erst nach 1956 durften die Russlanddeutschen wie­der nach Hause.

Mein Vater hatte bereits 1949 in Ka­sach­stan geheiratet, auch andere Fami­lienmitglieder hatten dort eine Familie gegründet. Außerdem hörte man von Russlanddeutschen, die an die Wolga zurückgegangen waren, dass es ihnen dort nicht gut erging. Russen hatten ihre Häuser besetzt und sie mussten zusehen, wie sie zurecht­kamen.

Frau U.: Von unseren Familien ist nie­mand mehr an die Wolga zurück­ge­gangen.

Herr U.: Sowohl meine Großeltern wie auch meine Eltern haben immer da­von gesprochen, „in die Heimat zurück zu gehen“. Die Äpfel und das Brot schmeckten dort viel besser. Das Land sei viel schöner. Wir lebten in Kasach­stan ja in einer trockenen Steppe, ohne Fluß, ohne Wald, während an der Wolga das Klima besser war und alles wuchs.

Grüne Post: Nach 1945 und besonders ab den 1970ger Jahren wurde der Nationalsozialismus in Deutschland auf­gearbeitet. Wie ging man mit dem Stalinismus in der Sowjetunion um?

Frau U: Ich habe davon gar nichts gehört. Wir wohnten weit weg in einem Dorf und bekamen keine Infor­mationen. Weder in der Schule noch in meiner Aus­bildung wurde jemals über Stalin´s Verbrechen gesprochen. Nie wurde wie in Deutschland so etwas öffentlich diskutiert. Alle haben Angst gehabt.

Herr U.: Ich habe nur gehört, dass einiges, was Stalin gemacht hat, nicht gut war. Wir haben erst hier mehr über ihn gelesen.

Grüne Post: Ihr seid schon vor mehre­ren Jahrzehnten aus Russland ausge­wandert. Was waren Eure Beweg­gründe?

Herr U.: Es gab mehrere Gründe: Zum einen hatten wir wie viele andere Fami­lien auch eigentlich vor, an die Wolga zurückzukehren. Das wurde vom Deutschen Staat auch gefördert. Doch als das die Russen an der Wolga erfuhren sagten sie öffentlich im Fern­sehen, sie hätten einen Platz für uns: ein ehemaliges Atombomben-Ver­suchs­gelände.

Frau U.: Ein weiterer Grund war, dass man dort einfach nicht mehr leben konnte. Das ganze System war durch und durch korrupt. Wer nicht in der kommunistischen Partei war hatte keine Chance, egal, ob es darum ging, im Laden etwas zu kaufen, den Lohn oder berufliche Weiterqualifizierung oder etwas anderes ging.

Herr U.: Es wurde immer schlimmer. Egal, wie viel man gearbeitet hat, man konnte nie so viel verdienen, dass man davon hätte leben können.

Frau U.: Der Hauptgrund war dann, dass wir für unsere Kinder keine Zu­kunft gesehen haben. Sie waren ja noch klein und alles war so ungewiss.

Herr U.: Wir haben auch keine Mög­lichkeit gesehen, dass wir und unsere Kinder unsere Identität behalten. Die Sprache, die Kultur, alles wäre verlo­ren gegangen.

Grüne Post: Ihr unterstützt ja die Ukraine. Machen das alle eure Be­kann­ten und Verwandten, die hier leben, auch?

Frau U.: Ich kenne keinen. Man kann auch nicht mit ihnen darüber reden.

Grüne Post: Wie erklärt Ihr Euch das?

Frau U.: Ich erlebe es als Nostalgie nach der alten Zeit. Wie schön es damals war.

Herr U.: Ich glaube, sie sind nicht ehr­lich zu sich selber. Sie wissen eigent­lich, wie es drüben war und wollen deswegen nicht zurück. Ich selbst identifiziere mich mit Deutsch­land. Ich bin stolz, hier zu sein und meine Familie und ich sind froh, hier zu sein.

Grüne Post: Was muß Eurer Meinung nach geschehen, damit es in der Ukraine Frieden gibt?

Herr U.: Die Weltgemeinschaft muss enger zusammenarbeiten und an einem Strang ziehen, um die Ukraine zu unterstützen. Auf diplomatischem Weg gibt es aus meiner Sicht keinen Weg zum Frieden.

Frau U.: Ich sehe oft Interviews, die ukrainische Reporter mit russischen Kriegsgefangenen führen. Ich finde es sehr gut, dass sie sie fragen, warum sie Soldat geworden sind, warum sie in die Ukraine zum Kämpfen gegangen sind. Selbst wenn Putin weg wäre kämen andere. Putin ist für mich ein Verbrecher.

Grüne Post: Vielen Dank für dieses Gespräch!

Das Gespräch führte Ursula Pfäfflin Nefian