Zerplatzte Träume...
... in der Ukraine
Mit dem Überfall der russischen Armee sind mit einem Schlag auch die Träume und Hoffnungen von Millionen Menschen in Europa zerplatzt – in der Ukraine, in Rußland und bei uns. Viele Menschen verloren ihr Leben, ihre Verwandten, Freunde, Nachbarn, andere mußten flüchten. Dabei trifft es die Kinder besonders hart. Sie gingen in der Ukraine in die Schule, standen zum Teil kurz vor ihrem Abschluß, hatten vielleicht schon einen Berufswunsch vor Augen. All dies – zerstört. Nun leben viele in einem Land, in dem nicht nur die Sprache, die Sitten und Gebräuche, die gesellschaftlichen Regeln, sondern sogar die Buchstaben fremd für sie sind. Mit ihren Müttern bangen sie um das Schicksal ihrer Väter, Brüder und anderer Verwandter und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind. Jeder Tag, an dem ein Kontakt mit den Daheimgebliebenen gelingt, ist ein guter Tag. Doch wie wird der nächste sein?
... in Rußland
Doch auch in Rußland sind die letzten verbliebenen Hoffnungen auf ein Leben in Frieden, Demokratie und ein bißchen Wohlstand langfristig zerstört. Diejenigen, die anfangs noch gegen den Krieg demonstrieren, sind in Lagern gefangen, mundtot gemacht, oft an Leib und Seele gebrochen. Den Menschen bleibt nur, an Putins Märchen zu glauben, in die innere Emigration zu gehen oder das Land zu verlassen. Die letzten unabhängigen Medien mußten Ihre Arbeit einstellen, konnten nicht länger das Leben Ihrer Mitarbeiter auf´s Spiel setzten. So ist es für die Menschen im größten Land der Erde fast unmöglich, an unabhängige Informationen zu kommen, das eigene Leben selbst zu gestalten und die Zukunft zu planen.
... bei uns
Und wir? Als Kinder der Nachkriegsgeneration wünschten wir uns nichts mehr, als daß es nie wieder Krieg geben sollte. Auch wenn dies für die gesamte Erde von Anfang an nicht erreichbar erschien, so träumten wir, und auch ich, von einem Europa in Frieden. Der Kniefall Willi Brands leitete die Entspannungspolitik in Europa ein, der Frieden schien plötzlich machbar zu werden. Und so war es nur folgerichtig, daß die Diskussion um die Stationierung amerikanischer Pershing II-Raketen und Cruise Misseles Anfang der 1980ger Jahre Hunderttausende Menschen auf die Straßen trieb. Damals richtig und sicher auch die Voraussetzung dafür, daß im Herbst 1989 die Berliner Mauer fiel und die damalige sowjetische Regierung unter Michael Gorbatschow dies unterstützte.
In der Folge geriet die Union der sozialistischen Sowjet-Republiken (UdSSR) immer stärker unter Druck, immer mehr ihrer einstigen Unionsmitglieder strebten die Unabhängigkeit an. Die meisten Länder des ehemaligen Ostblocks wie Polen, Ungarn oder die baltischen Staaten näherten sich mehr und mehr dem Westen an, wurden Teil der EU und Mitglieder der Nato. Neben der wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung verlor Rußland nicht nur Einfluß und Macht, sondern bei einigen seiner Führungspersonen, allen voran Putin, wurde auch der Nationalstolz wurde erheblich getroffen.
Vielleicht, weil wir nach dem Faschismus in Deutschland jeglichem Nationalstolz mißtrauten und auch, weil der Handel mit Rußland beständig ausgebaut wurde und wir glaubten, wer miteinander handelt, schießt nicht aufeinander, haben wir diese Entwicklung in Rußland nicht gesehen – vielleicht auch nicht sehen wollen. Schon unter Bundeskanzler Schröder, erst recht aber unter Kanzlerin Merkel, wurde die deutsche Energieversorgung mehr und mehr auf russische Kohle, Öl und vor allem Gas aufgebaut. Ein fataler Fehler, wie selbst CDU und CSU heute feststellen müssen. Denn am 24. Februar 2022 zerplatzte der Traum von einem friedlichen Miteinander in Europa.
Seitdem ist nichts mehr so, wie es einmal war. Sicher geglaubte Weltsichten müssen hinterfragt und neu gedacht werden. Frieden schaffen ohne Waffen? Natürlich, aber wie soll das gehen? Wenn ein russischer Panzer gerade das Haus beschießt, in dem du lebst? Vorrang für Verhandlungen? Unbedingt! Wenn es jemanden gibt, der zu Verhandlungen bereit ist. Buchstäblich bis zur letzten Minute gaben sich die bedeutendsten westlichen Regierungschefs die Klinke bei Putin in die Hand, um eine Verhandlungslösung zu finden. Seine Antwort: niemand plane einen Krieg. Nur Minuten später rollten russische Panzer in der Ukraine ein und zerstören seitdem alles, was ihnen in den Weg kommt.
Lange Zeit flehte der Ukrainische Präsident Selenski fast täglich um eine diplomatische Lösung. Erreicht hat er ebenso wenig wie Antonio Gueterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Nicht einmal die Zusage zu einem Fluchtkorridor für Zivilisten aus dem völlig zerstörten Mariupol konnte er erreichen, wurde stattdessen in Kiew beschossen. Also wer soll mit einem Diktator verhandeln, der (noch) nicht zu Verhandlungen bereit ist? Und der der Welt eine Lüge nach der anderen auftischt?
Wäre Aufgabe eine Option?
Oder doch einfach aufgeben, wie es Freunde von mir vorschlagen? Zumindest kurz nach Beginn des Überfalls wäre dies eventuell eine Möglichkeit gewesen, wenn die Menschen in der Ukraine – und dort leben ja nicht nur Ukrainer sondern auch Russen, Georgier und viele andere Nationalitäten – bereit gewesen wären, sich einem ausländischen Diktator zu unterwerfen. Die Folgen wie Verarmung, Unterdrückung und Ausbeutung durch Rußland waren ihnen jedoch nur zu bekannt, war die Ukraine ja lange genug – und gegen ihren Willen – Bestandteil der UdSSR. Doch zu lange und zu hart hatte die Ukraine um ihre Selbstbestimmung gekämpft, zu viele Opfer hatte sie dafür gebracht. Auch wenn ihr Weg sicher schwierig und vielleicht auch widersprüchlich war, nun hatte sie eine demokratisch gewählte Regierung und wollte sie behalten. Aufgabe war für die Ukraine nie eine Option. Besonders deutlich wird dies im Osten der Ukraine, wo die Menschen die russische Armee eigentlich mit offenen Armen hätten empfangen müssen. Denn nach russischer Lesart wurde der Donbas und das Gebiet Luhansk doch schon 2014 „befreit“. Stattdessen kämpfen die Einwohner erbittert um ihre Freiheit.
Mag sein, daß es für uns schwer zu verstehen ist, warum man sich lieber umbringen läßt statt aufzugeben. Aber würden wir einem Einbrecher unser Haus und alles, was wir besitzen, freiwillig überlassen? Jedes Land hat das völkerrechtlich verbriefte Recht, selbst über seinen Weg zu entscheiden. Und das gleiche Recht hat es, sich gegen einen Überfall von außen zu verteidigen und dazu auch die benötigte Unterstützung zu bekommen. Gerade wir Deutschen sollten dies respektieren. Ohne den bewaffneten Eingriff der Franzosen, Engländer, Amerikaner und auch Russen gegen Nazideutschland wäre unser Leben heute nicht so, wie es ist. Wenn es uns überhaupt gäbe wären wir in der Hitlerjugend groß geworden, eigenes Denken, Meinungs- und Pressefreiheit, die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wo und wie man leben will – alles unmöglich.
Sicher wünschen die meisten, die nun der ukrainischen Regierung gute Ratschläge geben, nur das Beste. Aber manchmal beschleicht mich schon das Gefühl, daß man es sich damit auch recht einfach macht. Man kann sich mit gutem Gefühl zurücklehnen – die machen ja nicht, was gut und richtig für sie wäre – und sein Leben so weiterleben wie bisher. Niemandem kann man das verdenken, sein Leben einfach weiterzuleben, als wäre nichts gewesen. Nur leider ist es nicht so. Dieser Krieg ändert alles. Und zerstört die Träume und Hoffnungen von Millionen Menschen.
Ursula Pfäfflin Nefian